Kirchenleitungsbericht – Kapitel 3.1
3.1. Kirche im Wandel: Leitfragen und Gesprächsstände – Ekklesiologische Überlegungen
Unsere Landeskirche ist davon geprägt, dass von „der Kirche“ als von der Gemeinde bzw. von einer großen Anzahl von Gemeinden gesprochen wird. Für manche Gemeindeglieder tritt die Landeskirche – die dann irgendwie nur eine Sammlung aller Gemeinden ist – hinter dem zurück, was in der eigenen Orientierung unter dem Begriff Gemeinde verstanden wird. Oft ist es schlicht die Gruppe der Gläubigen, die sich vor Ort zum Gottesdienst und zu verschiedenen Veranstaltungen versammelt. Der Bezug zum Kirchgebäude und zum Pfarrhaus, zu Mitarbeitenden und zu örtlichen Traditionen ist im Bewusstsein vieler gemeindekonstituierend.
Dem entspricht, gewissermaßen als Gegenstück, das, was wir mit dem Begriff Parochie bezeichnen. Die Parochie – als Amtsbezirk eines Pfarrers oder einer Pfarrerin verstanden – markiert die Außengrenzen des Zuständigkeitsbereiches und für die Gemeindeglieder umgedreht die Zuordnung zum Dienst einer Amtsperson. Die Parochie klärt damit, wohin man gehört, unabhängig davon, ob man das auch so empfindet.
Große Strukturverbindungen stellen jedoch den Gedanken der Gemeinde als örtliche Versammlung und auch den der Parochie in Frage. Das geschieht in doppelter Weise: die dort agierenden Amtspersonen können ihre Zuständigkeit nur dadurch annähernd gewährleisten, dass sie ihren Dienst massiv reduzieren. Zusammenkünfte können nur noch bedingt geleitet werden. Gemeindeglieder wiederum verlieren den Kontakt zu den für sie zuständigen Hauptberuflichen, weil diese schlicht zu weit weg oder nicht mehr wahrnehmbar sind. Daraus ergibt sich in der postmodernen Gemeindewirklichkeit ein Spannungsfeld zwischen Gemeindebegriff und Gemeindewirklichkeit sowie parochialen und nichtparochialen Strukturen. Erstere bieten, wenn funktionierend, Geborgenheit, Heimat und Verlässlichkeit. Letztere begegnen ausdifferenzierten Interessen, nehmen die Mobilität der Menschen ernst und bieten wohnortunabhängige Aktivitäten an.[1]
Die letzten Strukturreformen bzw. -anpassungen haben dazu geführt, dass bei vielen das „Körpergefühl“[2] für die Gemeinde verlorengegangen ist. Die neuen Strukturverbindungen waren und sind nur bedingt in der Lage, die notwendige Verbundenheit mit der „Kirche vor Ort“ zu gewährleisten. Nicht alle Ehrenamtlichen können und wollen ihren Wirkungsradius vergrößern. Es gelingt oft nur schwer, Gemeindeglieder im Gottesdienst des Nachbarortes zu beheimaten und das trotz der Erfahrung, dass vielfältige andere Lebensbezüge sich in großen Radien abspielen.[3] Manche ziehen sich entmutigt aus unseren Gestaltungsprozessen zurück und bilden mit wenigen Gleichgesinnten eine Gruppe, die mitunter als „Hausgemeinde“ bezeichnet wird, aber vorrangig auf sich selbst bezogen bleibt. Dabei empfinden sie sich als Teil des Leibes Christi, das Ganze dieses Leibes wird aber nicht näher bestimmt bzw. mitgedacht.
Vor diesem Hintergrund wird es bedeutsam, ob es uns bei den nächsten Transformationsschritten unserer Kirche gelingt, diesen Lebenswirklichkeiten gerechter zu werden, ohne die wichtigen Funktionen der anderen landeskirchlichen Ebenen aus dem Blick zu verlieren.[4] Deshalb lohnt es sich, zunächst grundsätzlicher zu fragen, was neutestamentlich und beispielhaft kirchengeschichtlich mit dem Begriff Gemeinde verbunden wird.
Gemeinde – im Neuen Testament Ekklesia (griechisch ἐκκλησία) – bezeichnet nicht nur die Gemeinschaft der Gläubigen an einem Ort. Sie ist die Vokabel für ganz unterschiedliche Formen der sozialen Verbundenheit. Die neutestamentlichen Autoren haben das Wort Ekklesia vorgefunden. Es war in der hellenistischen Welt die Bezeichnung der „Volksversammlung der freien Stadtbürger“. Die ersten Gemeinden wollten mit der Übernahme dieses Begriffes ihr Selbstverständnis ausdrücken: Wir sind Befreite und wir bilden in unseren Versammlungen das neue Volk Gottes!
In den neutestamentlichen Schriften wird das ganz unterschiedlich entfaltet. In den paulinischen Briefen ist in der Regel die Versammlung der Christen am Ort gemeint.[5] Im Epheserbrief finden wir einen anderen Akzent. Dort werden die Christen vor Ort als „Heilige“ bezeichnet und der Begriff der Ekklesia für die Gesamtheit aller Christen reserviert.[6] Mit dem Wachstum der Gemeinden und der Bildung von Kirchen wurde der Begriff gewissermaßen mitgenommen. So ist die „heilige, christliche Kirche“ im apostolischen Glaubensbekenntnis eine Ekklesia (lateinisch ecclesia). Hier knüpft auch CA VII an: „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“ Es wird hier sowohl von der Kirche insgesamt als auch von der Ortsgemeinde gesprochen. Es ist die Versammlung aller an allen Orten.
In der Offenbarung des Johannes wird an das hebräische Wort für Gemeinde angeknüpft: kahal (hebräisch קָהָל).[7] Damit ist die endzeitliche Sammlung der Gläubigen gemeint. Hier scheint die Organisationsform der Kirche ganz zurückzutreten. Damit schließt sich der Kreis. Am Anfang wie am Ende ist die Gemeinde schlicht das ganze befreite Volk Gottes, welches sich in verschiedenen Kontexten eine unterschiedliche soziale Gestalt und formale wie inhaltliche Prägung gibt.[8]
Für unsere Landeskirche bedeutet das, dass wir einen Klärungsprozess vor uns haben, der ans Licht bringen muss, wie in Gemeinde und Kirche selbst, aber auch darüber hinaus die Gemeinde bzw. Kirche zunächst wahrgenommen und dann gestaltet wird. Kirchennahe und Kirchenferne, Ehrenamtliche und Hauptberufliche, Außenstehende und Nichtreligiöse können uns die Augen dafür öffnen, wer wir sind.[9]
Danach muss geklärt, geprüft und entschieden werden, was für die Zukunft wichtig werden soll.[10] Zum Geraten dieses Prozesses wird wesentlich beitragen, ob es uns gelingt, uns im Kleinen wie im Großen als Gemeinde zu verstehen. Unsere Strukturreformen, die den Raum der Gemeinde größer gemacht haben, müssen die Frage beantworten, inwieweit sich Gemeinden in ihnen noch als „Versammlungen von Gläubigen“ verwirklichen. Dafür braucht es bei weiteren Transformationsschritten eine verstärkte Aufmerksamkeit.
Kleine örtliche Gemeinden wiederum benötigen eine Weitung ihres Körpergefühls, um ihre Lebensfähigkeit nicht zu verlieren. Eine einzelne Zelle kann ohne den Organismus nicht sein, ein Organ nicht ohne den Leib. Deshalb gilt es neben der Stärkung unserer Gemeinden immer auch das Leben der Kirche insgesamt zu fördern. Dazu gehören geeignete Strukturen genauso wie theologische Überzeugungen und Erfahrungen, die uns verbinden. Nicht zuletzt brauchen unsere Ehrenamtlichen und Hauptberuflichen ein Bewusstsein dafür, dass sie mit ihrem konkreten Dienst vor Ort Teil einer Kirche sind.[11]
Für die Weiterentwicklung unserer Landeskirche kann aus diesen Überlegungen mitgenommen werden, dass neben den geprägten Vorstellungen, was „die Gemeinde“ ist, andere, vielleicht neue und andere Sozialformen als die bisherigen ebenfalls dem entsprechen können, was wir damit meinen. Wenige können sich als Gemeinde verstehen, wenn sie sich als die Befreiten des neuen Gottesvolkes versammeln.[12] Der ganze große Leib Christi wiederum fügt sich aus allen Gläubigen aller Zeiten zusammen. Dazwischen gibt es viele Möglichkeiten, Gemeindeleben zu organisieren.
Unter dieser Voraussetzung lässt sich auch die Spannung zwischen parochialer und nichtparochialer Struktur auflösen. Die Präsenz der Kirche vor Ort entscheidet sich nun nicht mehr an der Residenz des Pfarrers oder einer anderen hauptberuflichen Amtsperson vor Ort, sondern an der Existenz der Gemeinde an sich.[13] Daraus ergibt sich eine Orientierung an den jeweils vorhandenen Potentialen und den zu entwickelnden Perspektiven. Nicht immer ist alles möglich. Die Erhaltung und Bildung unserer gemeindlichen und kirchlichen Strukturen, die Zuordnung des Personals und der Finanzen, der Umgang mit unseren Gebäuden und die Organisation unseres Dienstes – das alles muss letztlich der facettenreich gedachten Gemeinde dienen. Wenn wir uns dabei auf das jetzt Mögliche konzentrieren, bleibt doch der Anspruch, dass wir uns in einem ganz weiten Horizont bewegen. Diesem Anspruch werden wir auch dadurch gerecht, dass wir neue Formen gemeindlichen Lebens ermöglichen und unterstützen.
[1] Vgl. M. Teubner, „Gehet hin und lehret alle Völker…“ Überlegungen zum Zusammenspiel parochialer und nichtparochialer Strukturen unter ekklesiologischen Gesichtspunkten, ABl 2017, B25–B33, online verfügbar unter: https://engagiert.evlks.de/fileadmin/userfiles/EVLKS_engagiert/E._Materialien/PDF_Materialien/ Vortrag_Parochie_Nichtparochie_19102017.pdf (abgerufen am 01.02.2025). Dieser Vortrag enthält darüber hinaus eine detaillierte Darlegung der Entwicklung kirchgemeindlicher Strukturen der jüngeren Geschichte unserer Landeskirche unter parochialen Gesichtspunkten.
[2] Den Begriff „Körpergefühl“ hat OLKR Dr. Peter Meis (1953–2023) in den ekklesiologischen Zusammenhang eingeführt; vgl. dazu den Bericht der Kirchenleitung an die 26. Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens vom 8. November 2013 (VL 60), 6. Zuvor hatte Peter Meis den Begriff u.a. schon in einer Pfingstpredigt über 1. Korinther 12,4–11 am 24. Mai 2010 in der Kreuzkirche Dresden verwendet.
[3] „Doch dass die Veranstaltungen nicht im eigenen Dorf, sondern in einem anderen bzw. nicht zur ‚richtigen‘ Zeit, sondern später oder früher stattfinden sollen, wird … als weiterer Angriff auf die Identität des Dorfes erfahren. Er wird in der Institutionslogik analog zum sozialstaatlichen Handeln als Entzug und Verrat, von außen gesteuert, gedeutet.“ (E. Hauschildt und Th. Schlegel, in: Kirchenamt der EKD [Hg.], Freiraum und Innovationsdruck. Der Beitrag ländlicher Kirchenentwicklung in ‚peripheren Räumen‘ zur Zukunft der evangelischen Kirche, Leipzig 2016, 44).
[4] Thomas Schlegel definiert in seinem Beitrag „Der Dritte im Bunde“ eindrücklich die Bedeutung der Landesebene in drei Funktionen: Kommunikation, Steuerung und Dienst (vgl. Th. Schlegel, Der Dritte im Bunde. Einblicke in die Arbeit eines Landeskirchenamtes, in: Ch. Meyns / G. Raatz [Hg.], Was braucht die Gemeinde? Zum Wechselspiel zwischen kirchlichen Transformationsprozessen und Ekklesiologie, Leipzig 2022, 47–62, bes. 50 ff).
[5] Vgl. 1. Thessalonicher 2,14; Galater 1,22; Römer 16,16.
[6] Vgl. Epheser 1,22 f.
[7] Vgl. Offenbarung 3,8.
[8] Die sieben Gemeinden in Offenbarung 2 f stehen stellvertretend für mögliche Gemeindeformen unterschiedlicher Zeiten und Orte. Sie zeichnen ein vielfältiges Gemeindebild und öffnen damit die Möglichkeit, die je eigene Gemeinde- bzw. Kirchensituation einordnend zu deuten.
[9] Nachzulesen bei E. Hauschildt, Kirche und Gemeinde. Fünf Schritte zu einer einfallsreichen Theologie, in: Meyns / Raatz (Hg.), Was braucht die Gemeinde?, 89–108, hier 93 ff.
[10] Ebd.
[11] „Die ἐκκλησία des Neuen Testaments lebt in der Spannung zwischen Partikularität und Universalität; sie kommt darin zum Ausdruck, dass die Kirche sowohl als Gesamtkirche als auch als Kirche vor Ort existiert. In jeder Ortskirche ist die ganze Kirche je verwirklicht, und umgekehrt ist die Universalkirche nicht der Zusammenschluss der Lokalkirchen sondern der Inbegriff ihres Einsseins in Christus als Gemeinschaft Verschiedener.“ (H.-R. Reuter, Der Begriff der Kirche in theologischer Sicht, in: G. Rau / H.-R. Reuter / K. Schlaich [Hg.], Das Recht der Kirche, Bd. 1: Zur Theorie des Kirchenrechts, Gütersloh 1997 [Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft; 49], 23–75, hier 26).
[12] Vgl. Matthäus 18,20.
[13] Das Grundlagenpapier „Kirche mit Hoffnung“ beschrieb diesen notwendigen Perspektivwechsel besonders im vierten Abschnitt; vgl. Kirche mit Hoffnung in Sachsen, 13 f („4. Änderungen in den Berufsfeldern des Verkündigungsdienstes“).